2005
 
26. März
 

Im Zug Nowosibirsk – Wladiwostok wurde es sehr heiß im Waggon.  Dann wurde es ganz heiß. Schließlich gingen wir zum Schaffner. Der saß halb nackt schweißgebadet da und schrieb etwas. Wir baten ihn die Heizung zurückzudrehen. Ich kann nicht, sagt er, das ist Tradition. Der Wagen muss durchgeheizt werden, damit er bei einem Aufenthalt nicht einfriert. Aber es ist doch Frühling, sagen wir. Weiß ich, sagt er, ich schwitze selber. Aber, Jungs, das ist Tradition. Damit es im Winter nicht vergessen wird. Ich lag schweißnass auf der Liege und hörte „Greatfull Dead“. Der schuldbewusste Schaffner – Hüter einer Tradition – brachte uns heißen Tee. Mit freiem Oberkörper erinnerte er mich an eine Tschaichana in Samarkand. Und wir mussten lachen. Schallend und lange. Und er erzählte etwas.

Ich hörte zerstreut mit einem halben Ohr hin. Wie das Bratsker Wasserkraftwerk gebaut wurde. Dann hörte ich zu. „...Man konnte zusehen, wie der Jenissej sie fortspülte. Sie waren im Handumdrehen weg. Seit fünf Tagen werfen wir sie jetzt rein und denken schon Mist, das war’s dann, die „Betontschiki“ reichen nicht“...

Wen sie da wohl reingeworfen haben, dachte ich...

Sehr viele Betonpyramiden waren bereitgestellt worden. Sie haben lange gearbeitet. Viele Lastwagen und viele Menschen. Und sie fingen an, die Pyramiden in den Jenissej zu werfen um ihn zum Stehen zu bringen. Einen Staudamm nennt man das. Doch der Jenissej wollte weiter fließen bis in alle Ewigkeit. Und er zerstreute die Pyramiden. Der fünfte Tag ohne Schlaf und die Pyramiden, die „Betontschiki“, gehen aus und es riecht schon nach einer Massenerschießung. Und einer nach dem anderen rasen die Lastwagen mit Höchstgeschwindigkeit zum Jenissej und der Fluss gibt sich nicht geschlagen. Dann auf einmal eine Welle, ein Strudel und aus dem Wasser tauchte eine Pyramide auf.  Der Fluss hatte aufgegeben, war gestrauchelt, matt geworden... Seitdem friert der Jenissej nicht mehr zu.

Wir haben in Krasnojarsk „Once...“ gespielt. In den letzten Jahren war das der stärkste Anklang beim Publikum. Nach der Vorstellung kamen große ernste Menschen zu uns, nahmen mich zur Seite und wollten wissen, ob ich am Schluss des Stückes sterbe oder an der „Pforte der Donna Flora“ einschlafe. Ich wollte mit einem Scherz davonkommen, doch nach einem aufmerksamen Blick  auf den Anführer wurde ich unsicher. Ich schlafe ein, antwortete ich, es war alles nur ein Traum...

So ist das also, Sergej Sanytsch, er schläft ein. Und ihr mit eurer himmlischen Schwermut denkt gleich er stirbt, Schluss und aus. Danke, junger Mann! Meine Frau hat einfach losgeheult... Aber das geht in Ordnung. Kommt mal wieder zu uns!

In diesem Land, das Sibirien heißt, gehen die Uhren anders. Und der Himmel hat seine eigene Höhe. Hier ist es sauber. Hier vertraut man. Wer betrügt, kann nicht überleben. Es ist kalt so allein. Himmlische Schwermut...

Bratsk. Das Kraftwerk. Bratsk. Das Kraftwerk.
Aufnahmen des Films "Die Diagnose" Once upon a time...
DEREVO. Die tägliche Kugel. Foto - Wladimir Linin Krasnojarsk. Städtische Oper
Das Haus der Nixe Pferd
Seitdem friert der Jenissej nicht mehr zu

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Text: Anton Adassinskij und DEREVO

Übersetzung: Rainer Jäckel
Foto: DEREVO, Wladimir Linin.
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