2006
 
27. April
 

„Once...“ in der Music Hall
Großer Saal, 1500 Plätze. Noch dazu Sankt Petersburg. Tausend Bekannte. Vor der Garderobe ein Wachmann: „Verzeihen Sie, es geht jetzt nicht, sie kommen in einer halben Stunde raus ins Foyer.“ Aber irgend jemand ist trotzdem durchgekommen um Dankeschön zu sagen und auf einen Schwatz. Wir sind in voller Besetzung zu mir nach Hause geflüchtet.

Nach der Vorstellung kann man nicht einschlafen. Wir fanden ein großes Puzzle in einem Beutel, ohne Bild... Gegen drei Uhr morgens wurde uns klar, dass wir dabei waren „Once...“ zusammenzusetzten. Mein Flug geht um fünf. Ich schlief im Bad ein, Schtyk weckte mich mit einem irrsinnig starken Kaffe. Ich schlief im Auto. Ich schlief im Flugzeug. Ich schlief im Zug.

In Eisenach stieg ein Mädchen von etwa 13 Jahren ein. Hervorstehende Wangenknochen, massive Schultern. Sie setzte sich präzise, sofort in Sitzhaltung. Gleichzeitig legte sich eine Hand auf die Tasche. Ihr Gesicht drehte sich zum Fenster. Dann senkte sie den Kopf, streckte die Arme aus und ballte die Hände. Sie packte die Tasche aus und begann zu essen. Sie aß Joghurt, ein kleines Wurstbrot, eine ganze lange Gurke. Sie hatte alles selbst eingepackt, da bin ich mir absolut sicher. Sie sah nicht hin was sie aß, sie sah aus dem Fenster. Einmal wandte sie sich zu mir um. Ich hatte keine Zeit mehr wegzusehen. Wir sahen uns einfach an. Ich ging hinaus in den Windfang, schwang die Beine, wedelte mit dem Hintern, ließ die Knöchel krachen, setzte ein Lächeln auf und ging zurück zu meinem Platz. Im Gang stellte sie mich mit einer Frage und einem Blick:

– Bist du Turner?
– Nein, Tänzer.
– Ich bin Turnerin.
– I see.
– You see what?
– I mean - it’s clear. (Was zum Kuckuck rede ich da?).
– What clear?
– Your shoulders.

Wir mussten im selben Moment lachen. Der Frühling war gekommen und der Tod hatte zugeschlagen.

– Groß?
– Stark.
– Ich mag das Reck.

Ich stand im Gang. Der ganze Zug sah uns an.

– Wohin fährst du?
– Nach Leipzig. In Dresden steige ich um. Training und Vierkampf - Kür.
– Ich fahre nach Dresden.

Ich lehnte mich auf den Nachbarsitz. Wir waren im Rhythmus. Sie hielt die Unterhaltung am Laufen, sie kündigte die Pausen an. Sie holte ein Brötchen hervor , genauer gesagt, eine Hälfte. Die Hälfte der Hälfte bot sie mir an. Ich lehnte ab. Ich bot an Kaffee zu holen. Sie lehnte ab. Ich erzählte den Witz von den Katern, die Arm in Arm auf dem Dach sitzen: „Wenn ich zwei tote Ratten hätte, dann würde ich dir eine schenken!“ Sie lachte laut auf und zeigte mit dem Daumen nach oben. Der ganze Wagen dachte etwas Schlimmes.

– Magst du Musik?
– Ich tanze dazu.
– Ich auch. Aber der Trainer legt seine eigene auf.
– Bist du schon lange beim Sport?
– Von sieben an. Jetzt bin ich vierzehn. Klasse Jeans.

Sie weiß alles, dachte ich. Mit ihr geht alles.

– Wie lange machst du noch?
– Bis ich 18 bin, dann werde ich Trainerin. Ich kann in Bratislava anfangen.

Wir stiegen unbeschwert und synchron in Dresden aus. Auf sie wartete niemand. Sie warf sich die Tasche mit der einen Hand über die andere Schulter. Noch eine Sekunde und wir wären zusammen losgegangen. Sie schlug mir an die Brust.

– Success!
– Dir auch!

Sie hob eine Faust ohne sich umzusehen.

Ich drehte mich lange auf der Stelle und rauchte. Als ich aufblickte, flog unser (unser?) Zug davon, aber aus irgendeinem Grund in die Gegenrichtung. Wie hatte Einstein gesagt? Wenn man einen Zug vorbeifahren sieht, weiß man nicht, wo der Anfang ist. Was, wenn er mit ungeheurer Geschwindigkeit rückwärts fährt?

Auf dem Vorplatz gähnte ich und dachte, ich sei taub geworden. Aber nichts hatte sich geändert. Die Autos fahren hier leise.

 
ONCE, St. Petersburg, April 2006. Alexej Merkuschev. Foto: Anna Bogodist
After all. Foto: Elena Iarovaia
ONCE, St. Petersburg, April 2006. Elena Iarovaia.  Foto: W. Schesterikow
Der König. Foto: Elena Iarovaia
ONCE, St. Petersburg, April 2006. Ich und Ich. Foto: K. Beljaew
ONCE, Puzzle. Foto: Elena Iarovaia
A salty way... Foto: Elena Iarovaia
ONCE, St. Petersburg, April 2006. Tanja Chabarova. Foto: W. Schesterikow
We are coming. Foto: A. Chochlova
We are leaving. Foto: A. Chochlova
 

Text: Anton Adassinskij

Übersetzung: Rainer Jäckel
Foto: Elena Iarovaia, Anna Bogodist, Anna Chochlova, W. Schesterikow, K. Beljaew
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